Der Kampf gegen die Sucht
von Babett Wollin, 10.07.2023
Das klingt vernünftig, nicht wahr? Sucht bekämpfen. Wir müssen all unsere Willenskraft aufbringen, dagegen ankämpfen und stark sein. Das ist es, was wir tun müssen, um eine Sucht zu überwinden, nicht wahr?
Ehrlich gesagt macht das für mich überhaupt keinen Sinn, denn Sucht existiert immer aus einem bestimmten Grund. Sie hat eine Aufgabe. Sie spielt eine Rolle in Deinem Leben und das ist oft eine sehr wichtige.
So seltsam es auch klingen mag, die Sucht möchte Dir helfen. Hast Du schon einmal gehört, dass Leute sagen: „Alkohol ist mein Freund“, oder hast Du das vielleicht selbst einmal gesagt oder gedacht? Man sagt das nicht einfach so. Dieser Satz enthält viel Wahrheit.
Krücken
Eine süchtig machende Substanz oder ein süchtig machendes Verhalten ist wie ein Paar Krücken, wenn man ein verletztes Bein hat. Die Krücken geben Dir Stabilität und helfen Dir beim Gehen. Stelle Dir vor, man nimmt Dir die Krücken weg, bevor das Bein geheilt ist. Das würde keinen Sinn ergeben. Das würde niemand machen. Du kannst nicht auf magische Weise gehen, nur weil Du die Krücken weglegst. Bei den Krücken ist das natürlich offensichtlich, aber oft ist es nicht so offensichtlich, wenn wir dieselbe Logik auf Süchte anwenden. Wir können nicht einfach das Suchtmittel wegnehmen und erwarten, dass es uns besser geht. Wenn man die Krücken wegnimmt, entsteht ein leerer Raum, der oft gleich mit einem anderen Suchtmittel gefüllt wird. Wenn Du die zugrundeliegenden Verletzungen nicht heilst und die alten Glaubenssätze, die die Sucht überhaupt erst ausgelöst haben, loslässt, wird es zu einem ständigen Kampf.
Die treibenden Kräfte hinter einer Sucht sind Überzeugungen, die meist unbewusst sind. Dein Unterbewusstsein sucht immer nach Lösungen für Probleme, weil es Dir wirklich helfen will und Dich beschützen möchte. Aus Gründen, die normalerweise bis in die Kindheit und frühe Jugend zurückreichen, hat Dein Unterbewusstsein Glaubenssätze gebildet. So entstand zum Beispiel der Glaubenssatz, dass Alkohol ein gutes Mittel ist, um aus einem bestimmten Problem herauszukommen oder ein schlechtes Gefühl in ein gutes zu verwandeln. Dein Unterbewusstsein hat gemerkt, dass diese Substanz ein paar Mal gewirkt hat und Du Dich damit besser fühltest. Es machte die Welt weicher, weniger hart und irgendwie erträglicher, zumindest für eine kurze Zeit. Der Alkohol hat also seinen Zweck erfüllt, oder zumindest ist Dein Unterbewusstsein zu diesem Schluss gekommen. Doch dann geriet es nach und nach außer Kontrolle und entwickelte sich zur Sucht. Dein Unterbewusstsein hatte dies zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf dem Radar. Es hatte die Konsequenzen und die Tatsache, dass Suchtmittel niemals das richtige Mittel sind, um ein Problem nachhaltig zu überwinden oder langfristig von einem schlechten zu einem guten Gefühl zu kommen, nicht berücksichtigt.
Detektivarbeit
Was kannst Du nun tun, um die alten Glaubenssätze und Schlussfolgerungen, die Dein Unterbewusstsein gezogen hat, zu ändern? Du musst Detektiv werden und etwas Licht in Deine unbewussten Glaubenssätze bringen. Das ist einfacher als Du vielleicht denkst. Du musst nur herausfinden, was die Sucht für Dich tut. Welche Rolle spielt sie in Deinem Leben? Was ist ihre Aufgabe und womit hilft sie Dir? Sei ehrlich zu dir selbst. Die Sucht tut etwas für Dich. Es ist nicht alles negativ. Vielleicht fühlt sich die Welt dadurch weicher an. Vielleicht gibt sie Dir etwas Frieden und Ruhe. Vielleicht erspart sie Dir die Kommunikation mit der Außenwelt. Dein Unterbewusstsein hat das Suchtmittel ausgewählt, um Dir bei genau diesem Problem zu helfen. Also, was genau ist es für Dich?
Krücken 2.0
Nachdem Du nun herausgefunden hast, womit Dir die Sucht hilft, kehren wir zu unserer Geschichte mit den Krücken zurück. Du musst die Arbeit der Krücken übernehmen. Ja, das meine ich ernst. Du musst zu Krücken werden, aber diesmal Krücken 2.0. Damit die Sucht aus Deinem Leben verschwinden und obsolet werden kann, musst Du Dir beim Gehen helfen, bis Dein „Bein“ wieder geheilt ist.
Schauen wir uns einige Beispiele an. Wenn die Sucht Dir hilft, Deinen Freiraum und etwas Ruhe und Frieden zu finden, musst Du sicherstellen, dass Du Dir diesen Freiraum und diese Ruhe und Stille gibst. Du musst lernen, mit Deiner Familie zu kommunizieren und sie wissen zu lassen, dass Du etwas Raum für Dich selbst brauchst, vielleicht etwas, das Du schon lange vermieden hast.
Ein weiteres Beispiel: Die Sucht gibt Dir ein gutes und selbstbewusstes Gefühl. Übernimm diesen Job selbst. Verliebe Dich in Dich selbst. Sei Dir selbst ein guter, freundlicher und geduldiger Freund. Lobe Dich selbst und sage Dir jeden Tag, dass Du genug bist. Kümmere Dich um Dich. Du bist es mehr als Wert.
Ein drittes Beispiel: Wenn das Suchtmittel „Dein Freund“ ist, auf den Du Dich immer verlassen kannst, finde echte Freunde, die seinen Platz einnehmen. Gehe raus und treffe Leute, auch etwas, das Du wahrscheinlich schon lange vermieden hast. Und am Wichtigsten: Sei Dein bester Freund. Lasse Dich nie wieder im Stich.
Mach all die Dinge, die die Sucht für Dich getan hat. Übernimm ihre Rolle und mache sie arbeitslos. Werde aktiv und tu etwas. Dies wird Deinem Unterbewusstsein nicht verborgen bleiben und die Sucht wird Schritt für Schritt ihren Einfluss auf Dein Leben verlieren, weil sie nicht mehr benötigt wird. Sie wird irgendwann obsolet, weil Du jetzt für Dich da bist.
Klingt das beängstigend? Vielleicht liegt es daran, dass Du völlig ehrlich mit Dir sein musst. Aber was Dich auf der anderen Seite erwartet, ist es hundertprozentig wert: ein Leben voller Freude, Authentizität und Lebendigkeit.
Dies ist ein Gastartikel, den ich für die Global Recovery Community „In the Rooms“ geschrieben habe. Du kannst den Originalartikel in englischer Sprache hier lesen.
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